Chronische Erkrankungen stellen einen kritischen Einschnitt im Leben dar. Gewohnte und bewährte Routinen und die eigenen Arten, Aufgaben zu erledigen, Rollen im sozialen Leben zu spielen und persönliche Ziele zu erreichen, sind auf einmal bedroht, eingeschränkt oder gar nicht mehr möglich.

Auch der an Multipler Sklerose erkrankte Mensch steht vor einer großen Herausforderung: Denn was oft mit einer vorübergehenden Lähmung oder Sehstörung beginnt, stellt mit der Diagnose plötzlich das ganze bisher gewohnte Leben in Frage. Es gilt nun, die Krankheit sowohl emotional zu verarbeiten wie ganz neue Lösungen zu finden. Das Ziel ist es, möglichst die Kontrolle über das eigene Leben und emotionale Stabilität wiederzuerlangen. Diese beständige Anpassung an das Auf und Ab mit der Erkrankung erfordert viel Mut und Kraft – und die Bereitschaft, neue Wege der Lebensführung zu lernen.1 Das persönliche Vermögen, sich den neuen Anforderungen zu stellen, Lösungswege zu finden und selbstwirksam für die eigene Lebensqualität aktiv zu werden, wird mit dem Namen Resilienz bezeichnet.
Resilienz – mehr als eine einzige Fähigkeit
Bei den vielen Definitionen des Begriffs Resilienz mag sich von Fall zu Fall der Wortlaut unterscheiden, im Kern sind sich die wissenschaftlichen Betrachtungen aber einig: Resilienz wird als die Fähigkeit gesehen, sich mit seinem Verhalten angesichts von Widrigkeiten anzupassen. Und das heißt, positiv und aktiv darauf zu reagieren, wie z. B. bei chronischen Krankheiten und Krisensituationen, die Stress auslösen. 2 Resilienz bedeutet also die Widerstandsfähigkeit gegenüber einschneidenden Lebenserfahrungen – und den Antrieb, diese zu bewältigen.
Was sind die Faktoren, die hinter dieser Widerstandsfähigkeit stehen, aus welchen Quellen
beziehen Menschen mit hoher Resilienz ihre Stärke? Soweit die persönlichen Charakteristiken angesprochen werden, die man beobachtet hat, stehen sogenannte schützende Faktoren im Mittelpunkt:
- Wegweiser, Ritterschild
- Optimismus
- positive Stimmung
- Selbstwertgefühl
- Selbstfürsorge
- verminderte Angstgefühle. 2
Es geht also im Wesentlichen um die persönliche Einstellung – um die Zuversicht und Motivation, dass man etwas für sich verändern kann, und dass man die Kraft hat, es erfolgreich zu tun. Und die Gelassenheit, auch mit Schwierigkeiten umzugehen.
Natürlich spielen auch soziale Unterstützung, Familie und soziale Beziehungen eine Rolle. Aber die persönliche Initiative ist auch hier Dreh- und Angelpunkt – der Hebel, den jeder selber in der Hand hat.
Studien haben gezeigt, dass dieser Hebel tatsächlich etwas bewegt. Sie zeigten
- eine Verbindung zwischen der Resilienz und einem besseren körperlichen und geistigen Befinden 2
- eine Verbindung zwischen der Resilienz und gesundheitsförderndem Verhalten wie angemessene Ernährung, Stressreduktion, Selbstverwirklichung und geeignetem Sport 2
Einen umgekehrten Zusammenhang entdeckte man auch zwischen Resilienz-Scores und Scores für Angst und Depression: Je niedriger die Resilienz-Punkte, desto höher war der Score für diese psychischen Belastungen. 2
Ein wichtiger Schritt: die Frage nach den Glaubenssätzen
Resilienz ist etwas, über das jeder Mensch in unterschiedlichem Maß verfügt und auch nicht gegenüber jeder widrigen Situation in gleichem Maß. Kindheit, Erziehung, positive wie negative Erfahrungen mit der Selbstwirksamkeit beeinflussen die Ausprägung und Stärke der Resilienz. Doch sie ist auch etwas, dass man entwickeln kann.
Dabei ist klar, dass man nicht aus Gefühlen wie Angst, Wut oder Enttäuschung, die eine chronische Erkrankung oft auslöst, direkt zur Zuversicht übergehen kann, sozusagen auf Knopfdruck. Starke Gefühle müssen bewältigt werden. Ein Teil dieser Bewältigung besteht auch in der Frage, wie man Multipler Sklerose mit realistischen Perspektiven begegnen kann.
Die ersten Fragen bei der Konfrontation mit der MS sind also darauf gerichtet, die eigene Situation genau zu verstehen:
- Welche persönlichen Einstellungen oder Glaubenssätze wirken hemmend bei der Bewältigung der MS1 – zum Beispiel zu hohe Erwartungen an sich selbst, zu wenig Geduld, Abwehr von Hilfe, Selbstüberforderung, die Annahme eigener Machtlosigkeit gegenüber der MS?
- Welche Probleme gilt es zu lösen, was liegt im eigenen Verantwortungsbereich und wo ist Unterstützung nötig?
- Was kann in der Lebensführung beibehalten und was muss verändert werden1?
- Welche Ziele sollen nun Priorität im Leben haben,1 was macht Freude, kann ohne Überforderung erreicht werden und gibt dem eigenen Leben selbstbestimmten Sinn?
Die realistische Einschätzung trägt dazu, die Möglichkeiten der Bewältigung zu erkennen und umzusetzen. Und an der eigenen positiven Einstellung zu arbeiten, statt sich durch Resignation der Chancen zu berauben.
Lernen – der Weg zu Kompetenz und Selbstwirksamkeit
Bei einer chronischen Erkrankung, die sich auch immer wieder wandeln kann, bedeutet die Anpassung an Veränderungen einen lebenslangen Lernprozess. Das heißt bei MS zum Beispiel
- lernen, die Perspektive zu wechseln – Fokus auf das Machbare statt auf das, was nicht mehr geht1
- die Signale des Körpers verstehen lernen und rechtzeitig bewusst reagieren
- Information und Wissen über die eigene Krankheit und Therapiemöglichkeiten erwerben
- die Bewältigung von Stress und das persönliche Zeitmanagement erlernen1
- die eigenen Erfahrungen bewerten und Schlüsse für den künftigen Umgang mit Problemen ziehen
Dies alles dient der Anpassung an krankheitsbedingte Veränderungen und Stress und wird –als aktive Auseinandersetzung mit der Erkrankung – als Coping bezeichnet: als persönliche Art und Weise, die Krankheit zu bewältigen.
Die Resilienz stärken: mit Selbstfürsorge und Kommunikation
Mit jedem erfolgreichen Schritt der Selbstfürsorge und der zielgerichteten Aktivität erfolgt auch eine Rückmeldung – eine Bestätigung der eigenen Kompetenz. Dies gibt Selbstvertrauen und ist damit die Voraussetzung, an den Erfahrungen zu wachsen und Kontrolle im eigenen Leben wiederzuerlangen. Ohne sich von Rückschlägen den Wind aus den Segeln nehmen und entmutigen zu lassen.
Doch auch die sozialen Kontakte spielen eine große Rolle, wenn es um Resilienz und Stärke geht. Lebendige Beziehungen zur Familie, zu Freunden und Communities stärken das Gefühl der Zugehörigkeit und Sicherheit. 3 Gerade dann, wenn Unterstützung nötig wird, sind Netzwerke wichtig. Und auch bei der Überwindung von hemmenden Ängsten und Zweifeln und bei der Entwicklung von Strategien nach Unterstützung zu suchen, ist kein Zeichen von Schwäche – sondern der Mut, etwas verändern zu wollen und etwas Neues zu beginnen.
Quellen:
- 1 DMSG. Krankheitsverarbeitung – aktiv und selbstbestimmt: Ich und die MS, 2017; S. 3
- 2 Sílvia Fernanda Cal et al: Resilience in chronic diseases: A systematic review. https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/23311908.2015.1024928; zuletzt besucht am 25.042024
- ³ What Is Resilience? Your Guide to Facing Life’s Challenges, Adversities, and Crises. https://www.everydayhealth.com/wellness/resilience/ ; zuletzt besucht am 25.042024